Im zwanzigsten Stock des Hauses Helene-Weigel-Straße Nummer 13

Im zwanzigsten Stock des Hauses Helene-Weigel-Straße Nummer 13 knieten zwei Jungen auf der Kücheneckbank und sahen aus dem Fenster. Eugen Willmann und sein bester Freund Quetzalcoatl Schmidt waren beide neun Jahre alt. Weil Quetzalcoatls Vater Archäologe war und jedes Jahr einige Monate in Mexiko arbeitete, wohnte sein einziges Kind ein bisschen auch bei Eugen und dessen Eltern, eine Treppe höher. Mit seinen neun Jahren pflegte Quetzalcoatl eine Obsession, die sein gesamtes Denken, Fühlen und Trachten beanspruchte. Er sammelte Murmeln. Und im Moment hatte er nur ein Ziel. Er wollte Murmelkönig werden. Murmelkönig der 8. Grundschule in Marzahn-Hellersdorf. Dazu musste er den doofen und angeberischen Jan Bäblich aus der Parallelklasse aus dieser Position verdrängen. Und Quetzalcoatl war dafür fast jedes Mittel recht. Besonders gern wettete er mit jedem, der seinen Weg kreuzte und unvorsichtigerweise erwähnte, dass er Murmeln besaß. Manchmal verlor er, aber irgendwann gewann er alles zurück und noch viel mehr dazu. In der Wohnung im neunzehnten Stock, die er mit seinem Vater bewohnte, türmten sich die Murmeln in Kistchen, Säckchen und Tütchen. Deshalb und weil sein Name, den sein Vater mit so viel wissenschaftlicher Inbrunst für ihn gewählt hatte, von niemandem, außer von seiner Klassenlehrerin korrekt ausgesprochen werden konnte, nannte ihn jeder Murmel.

Murmel stieß Eugen in die Seite. Beide kicherten, als sie sahen, wie unten auf dem Parkplatz zwei Autofahrer aneinandergerieten. Sie hupten wild und bedrohten einander mit den Fäusten, während sie die Köpfe aus den Fenstern streckten.

„Wollen wir wetten?“, fragte Murmel seinen besten Freund mit einer Freundlichkeit in der Stimme, als wollte er Eugen ein Eis spendieren. Er nahm das Messer und beschmierte sich ein Brötchen dick mit Nutella.

Julius Dongle liebte diesen Moment. Eben noch hatte er das dumpfe Rumpeln des Fahrwerks auf der Piste bis in den Steuerknüppel hinein gespürt. Er zog ihn zu sich heran, und jetzt flog die Maschine steil und kühn nach oben. Sie trotzte der Schwerkraft und schob sich unwiderstehlich in den Himmel hinein. Ein kurzer Blick nach rechts aus dem Fenster zeigte ihm das Panorama des Flughafens. An der Nordseite des Geländes stand die Radaranlage zur Luftraumüberwachung, die aussah wie ein kugeliges Wespennest auf röhrenförmigen Stelzen. Daneben ein altes Soldatenkino, in dem jetzt Konzerte stattfanden. Die Hotelleitung führte einen verbissenen juristischen Kampf dagegen. Südlich sah er das doppelte Band von Autobahn und S-Bahn. Sein Aufstieg war schulmäßig, er hatte die Maschine im Griff. Er fühlte einen bitteren, fadenscheinigen Stolz. Er wollte nicht noch einmal den inneren Dialog nachsprechen, den er in den letzten Monaten mehrmals täglich mit sich geführt hatte. Er wusste längst, dass die Antwort darauf, ob dies die richtige Entscheidung gewesen war, nur ja heißen konnte. Sonst würde er nicht hier sitzen, sonst würde Romea nicht auch sehr bald über die Startbahn rollen. Es war ihr gemeinsamer Plan gewesen. Er warf einen Blick auf die Gerätetafel. Die Spitze seines Flugzeugs auf dem künstlichen Horizont war durch einen kleinen roten Ball gekennzeichnet, der knapp über der Nulllinie schwebte. Er stieg immer  noch sehr schnell. 2500 Meter waren fast erreicht und er schob den Steuerknüppel leicht nach vorne. Der rote Ball senkte sich auf die Nulllinie des künstlichen Horizonts und der Höhenmesser pendelte sich bei 2500 Metern ein.

Julius Dongle zog den Steuerknüppel mit einer Bewegung des Handgelenks leicht nach rechts, und seine Maschine flog eine langgezogene Rechtskurve. Vor ihm tauchte das leuchtende Band eines Gewässers auf, das aussah wie ein langgestreckter See, von dem er aber gelernt hatte, dass es sich um einen Fluss handelte. Die spitze Schnauze der Avro drehte nach rechts und der Kompass drehte sich mit. Kurs 270, 310, 340 Grad. Die Nadel im Display passierte 360 Grad Nord und drehte sich weiter. Als sie auf Kurs 040 stand, korrigierte er die Drehbewegung und zog den Steuerknüppel wieder in die Mitte. Sein Anflug hatte begonnen.

Eugen Willmann kuckte wie ein ziemlich kluges Schaf, dem man gerade eine Besichtigung des Schlachthofs am Tag der Offenen Tür vorgeschlagen hatte. Er wusste, was sein bester Freund, genannt Murmel, im Schilde führte. In Eugens Zimmer lag noch das Päckchen von seiner Patentante aus Köln mit der Tüte aus dreifach gelegtem blauen Papier, das so verheißungsvoll raschelte. Seit zwei Tagen zeigten Murmels Augen wegen dieser Tüte einen verderblich-glasigen Glanz, der Eugen klarmachte, dass Murmel von dem Dutzend allerfeinster Murmeln aus Muranoglas, sämtlich himmelblau mit weißen Einsprenkseln und mit einem atemberaubenden Durchmesser von 3 (drei!) Zentimetern längst Wind bekommen hatte.

Eugen überlegte, während er aus dem Inneren seines Brötchens unablässig kleine Figuren knetete. Murmel hatte die letzten drei Wetten verloren, bei der vor drei Tagen hatte er sogar richtig geblutet und seine größte Marmormurmel an Eugen aushändigen müssen. Aber war es nicht so, dass man Anfänger gewinnen ließ, damit man sie später um so besser ausnehmen konnte? Eugens Mund war trocken, obwohl er schon beim zweiten Becher Ovomaltine war. „Um was wetten wir?“

Murmel machte eine Handbewegung Richtung Fenster. „Marchwitzastraße 1/3“, sagte er.
Eugen kannte das Haus, es stand seit Jahren leer. Ein Doppelhochhaus mit zwei mal einundzwanzig Etagen. Ein Abrisskandidat für Blinde. Er zuckte die Schultern. „Das ist doch gar nichts. Mit Ansage. Such dir einen Dümmeren.“ Er rührte in der Ovomaltine, als wollte er ein Loch in seine Tasse bohren.

Murmel schüttelte langsam den Kopf. „Zwei. Eins für die Eins, eins für die Drei.“

Eugen legte den Löffel zur Seite und sah zu, wie sich die Ovomaltineklümpchen in rasender Fahrt weiterdrehten. „Zwei? Wann?“

„Heute Morgen.“

„Du spinnst doch.“

Quetzalcoatl rollte mit den Augen und setzte sich gerade hin. „Du wolltest doch eine richtige Wette.“
Eugen fragte: „Was setzt du ein?“

„Meine Giraffen“, antwortete Murmel wie aus der Pistole geschossen.

Eugen brach der Schweiß aus. Die Giraffen waren zwölf wunderschöne mit einem gelblichen Gittermuster auf dunklem Grund gestaltete Murmeln, ein Schnäppchen von einem der vielen Flohmarktbesuche.

Murmel schmierte sich ein weiteres Nutella-Brötchen und sagte: „Wenn ich gewinne …“

„Schon gut, ich weiß was du willst“, erwiderte Eugen. Er seufzte. „Ich habe sie noch nicht einmal ausgepackt.“

Quetzalcoatl Schmidt klopfte zweimal auf den Küchentisch. „Mann, entscheide dich. 8 Uhr 50 geht unser Bus.“ Er hielt Eugen seine fette kleine Hand hin.

Eugen überlegte und knetete einen kleinen Brötchenklumpen mit den Fingern. Er hatte noch nie, nie, nie von zwei Flugzeugen am gleichen Tag im gleichen Gebäude gehört oder gelesen, nie. Die zwei Türme, die fünfhundert Meter Luftlinie von seinem Wohnturm entfernt lagen, standen seit Jahr und Tag leer. Aber ein großes Flugzeug würde für beide völlig reichen. Und wer flog in zwei Flugzeugen? Nicht einmal siamesische Zwillinge, gerade die nicht. Eugen seufzte. Im schlimmsten Fall würde Jan Bäblich, die blöde Sau, schon sehr bald nicht mehr Murmelkönig sein. Er hob die Hand und schlug ein.

Rob Alef, Bang Bang stirbt, Shayol Verlag Berlin, 2005

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.