Zum Tod von Robert Enke

Das einzig Erfreuliche am gestrigen Tag war Theo Zwanziger. Der Mann besitzt eine stille Lauterkeit, die es ihm ermöglicht, ohne falsches Pathos von der notwendigen Dauer zu reden, die Trauer braucht, und das Länderspiel gegen Chile völlig selbstverständlich abzusagen. Ich wage mir die gleiche Situation mit Mayer-Vorfelder nicht einmal vorzustellen. Zwanziger zur Seite saß Oliver Bierhoff, der 25 Jahre jünger aussah als sonst. Das Weinen machte seine Gesichtszüge weich und rundlich. Kein lässiger Macher, der da sprach, ein immer noch recht junger Mensch, der über den Tod eines noch jüngeren Kollegen zu reden hatte. Sofort kann man naürlich einwenden, dass das Spiel ja wohl nicht abgesagt worden wäre, wenn es die WM-Quali gewesen wäre, und hat nicht Schalke an Nine-Eleven auch gegen Panathinaikos gespielt, also alles Heuchelei. Aber manchmal gibt einem das Schicksal erst den Schlag und dann eine Atempause.

Weil der DFB menschliche Größe bewiesen hat, spare ich mir Mutmaßungen darüber, dass der Logik des Merchandising folgend nach der Vorstellung der neuen Trikots nun eigentlich sofort die Vorstellung des neuen Trauerflors folgen müßte. Auch ich bin traurig, dass Robert Enke tot ist.

Als Hannover am dritten Spieltag 2-0 in Nürnberg gewann, bekam Enke die Note drei. Er hatte gegen die meist planlosen Nürnberger wenig zu tun und tat dies fehlerfrei. In erster Linie war dies ein Sieg des Schlitzohrs Jiri Stajner. Ihm gönnte ich seine beiden Treffer, vor allem das zweite. Ein wenig freute ich mich auch für Robert Enke. Obwohl Hannover potenzieller Rivale im Abstiegskampf oder zumindest eine Mannschaft ist, gegen die man zu Hause gewinnen muss, mir war es wesentlich lieber, dass Enke dieses Erfolgserlebnis hatte, als sagen wir Müller aus Mainz oder Nikolov aus Frankfurt. Vielleicht, weil man jemandem, der seine kleine Tochter verliert, während Fußballdeutschland vom Sofa aus Anteilnahme (ver)übt, nichts Böses wünscht, sondern gerne etwas Gutes, und sei es auch nur einen unverhofften Auswärtsieg. Vielleicht auch, weil Enke auf eine unspektakuläre Art geradlinig war, realistisch seiner Leistung gegenüber ebenso wie den sportlichen Möglichkeiten in Hannover.

Wenn der Kapitän der Roten nach Spielen sein Pflichtstatement vor laufender Kamera abgab, dann war das niemals glatt oder routiniert. Weder spulte er den präfabrizierten Mediensprech herunter noch gab er die Rampensau. Hinter seiner hohen Stirn dachte er gründlich nach, bevor er etwas sagte. Dass er als Fußballprofi eine öffentliche Person war, ertrug er mit schlecht verhohlenem Widerwillen. Auf dem Platz in seinem hautengen Trikot sah er immer sehr schmal aus, als trüge er das Gewicht der Welt auf den Schultern.  Ein fragiler Athlet, ein zerbrechlicher Ausnahmetorwart. Wie gut es den 96-Fans getan haben muss, dass so jemand ihnen die Treue hielt, ohne dauernd Treueschwüre abzugeben, dass jemand, den man in ganz Europa mit Handkuss ins Tor gestellt hätte, aus voller Überzeugung Kopf einer Durchschnittsmannschaft war, kann erahnen, wer solch wunderbare Jahre mit Andy Köpke einst erleben durfte.

Sebastian Deisler hat in der Hochleistungsshow Bundesliga während seiner aktiven Zeit seine Verletzlichkeit, sein Grundrecht auf ein beschädigtes Leben, mit manchmal provozierender Unübersehbarkeit gelebt, bis es nicht mehr ging. Er bleibt die Ausnahme in der Liga der großen Investitionen, die stets auch große Vorbilder sein sollen.  Am besten Sieger, und wenn Verlierer, dann nur episch. Bitte keine Ehe-, Alkohol-, Führerschein- oder Akklimatisierungsprobleme, eine bei manchen Vereinen bis ins letzte Komma vorgegebene Sprachregelung für die corporate identity, und wie schnell hat man sein Geld nicht verdient, wenn mal einen schlechten Tag oder einen schlechten Monat hat. Selbstverständlich sind alle gegen Rassismus, aber keiner ist schwul.

In diesen Tagen war viel von der Freiheit die Rede, die wir vor 20 Jahren errungen haben, und das ist bestimmt auch nicht falsch. Aber was für eine Freiheit ist das, wenn jemand sich eher das Leben nimmt, als offen einzuräumen, dass er Depressionen hat? Sollte es hier und heute, ohne blaue Hemdchen und Herren in grau lackierten Trabis  so etwas wie Konformitätsdruck geben, der zum Tode führt? Mitten im ewigen Völkerfrühling sterben Menschen an inneren Erfrierungen? Vor zwei Wochen fuhr ich mit dem Zug nach Nürnberg. Der stand dann außerplanmäßig drei Stunden in Kronach bei Bamberg herum, weil die Strecke total gesperrt war. „Betriebsstörung mit Personenbeteiligung“ ist die Bezeichnung im Bahndeutsch für Leute wie Robert Enke.

In Berlin werfen sich pro Monat etwa zwei Menschen vor einen U-Bahn-Zug. So gut wie nie ist ein DFB-Torhüter darunter, weshalb sich das öffentliche Entsetzen bei diesen „Fahrgastunfällen“ in Grenzen hält.  Bedauerlicherweise gehört es unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht nur zum Standard, Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren. Es gelingt zugleich, das Scheiden aus dem Leben, die kleine Abstimmung mit den Füßen immer ganz und ausschließlich privat zu deuten, während der Erfolg sofort Zulauf von offizieller Seite findet und umstandslos als systemisch gedeutet wird.  Ich frage mich, ob einer der vielen Spitzenpolitiker, insbesondere eine bestimmte Spitzenpolitikerin, die sich 2006 und 2008 im Glanz der DFB-Elf gesonnt haben, ein paar mütterliche Worte zur Dialektik vom Zwang zur fehlerfreien Funktionstüchtigkeit und Freitod in der Lage zu finden sind. Vielleicht will man sich ja in Südafrika auch wieder in der Kabine tummeln und dem nächsten Elfmetertöter gerne persönlich gratulieren.

„Beinahe hätte ich drei zu zwei gesagt.“

Das Ärgerliche am 2-2 der Nürnberger ist nicht das späte Ausgleichstor oder das nicht gegegebene Tor von Bunjaku. Mittlerweile war es die dritte krasse Fehlentscheidung gegen Nürnberg, aber was soll’s. Gegen eine der offensivstärksten Mannschaften und einen Angstgegner einen Punkt zu holen, ist nicht richtig schlimm. Es fehlen immer noch die drei Punkte gegen Hannover oder gegen Bochum, spätestens in der Rückrunde sollten sich die Clubberer diese zurückholen.

Extrem nervig war allerdings wie eh und je Wolfgang „die Unke“ Reichmann, der Mensch, der das Spiel gegen Bremen live kommentierte. Es ist schön, dass der Bayerische Rundfunk gescheiterten Beerdigungsrednern eine zweite Chance ermöglicht, aber warum läßt man dieses Fleisch und Stimme gewordene Elend der Welt nicht Staatsbegräbnisse und CSU-Parteitage live kommentieren? Wenn Reichmanns düster-dräuende Stimme über den Äther sorgenvoll dahinplätschert, dann steht der Club stets mit einem Bein in der Zweiten Liga, vor dem finanziellen Aus, am Rande einer Ebola-Pandemie. Alles ist immer ganz, ganz schrecklich.

Der kicker gab dem Spiel gegen Bremen die Note 1,5 und zählte 10-10 Chancen. Nicht mal ein Anflug davon war in Reichmanns Reportage zu finden. Wenn der Club ein Tor schießt, ist es ein Zufallsprodukt oder wird mit einem pflichtschuldig gemurmelten „nicht unverdient“ brav zu den Akten genommen. Wenn der Club führt, ist der Ausgleich nur eine Frage der Zeit. Wenn der Gegner in der Nachspielzeit das 2-2 erzielt, zeigt Reichmann, dass er nicht in der Lage ist, sich einen (Achtungs)-Erfolg der Nürnberger auch nur vorzustellen, und schwadroniert: „Beinahe hätte ich drei zu zwei gesagt.“ Wenn es keine Niederlage ist, dann wenigstens eine gefühlte.

Natürlich wollen wir keine Fröttmaninger Hofschranzen wie das Dreigestirn der Unbedarftheit Edgar Endres, Karl-Heinz Kaas oder Andre Siems, die im Niedergang des FC Bayern  immerzu das Weltklasse-Potenzial leuchten sehen. Aber eine Spielberichterstattung, die sich uzumindest umrisshaft an der Qualität des Spiels und am tatsächlichen Leistungsvermögen der Clubberer orientiert wäre schon schön. Schäfer entschärft in der 87. Minute eine tausendprozentige Torchance von Borowski. Reichmann konnte nicht erklären, warum Borowski den nicht reingemacht hat.

Weil der Club einen sauguten Torhüter hat, ganz einfach. Aber damit der Bayerische Unk-funk wagt, dies lauthals auszusprechen, muss der Club wahrscheinlich einfach mal Deutscher Meister werden, einfach so. Reichmann kommentiert dann vermutlich: „Hängende Köpfe in Nürnberg, denn der große FC Bayern hat mehr als doppelt so viele Titel gesammelt.“ Er ist ein hoffnungsloser Fall.