Der talentierte Mister Blatter

Klar, WM in Rußland, warum nicht. Bei der EM 2008 spielten die jungen Russen unter Hiddink Zauberfußball, ehe sie zum zweiten Mal zwischen Tiki und Taka genüßlich zermahlen wurden. Die Vereinsmannschaften sind zumindest in der Europa League immer vorne mit dabei. Die sowjetische Fußballtradition ist exquisit, Rußland ist das größte Land der Erde, von Kaliningrad bis Wladiwostok wird leidenschaftlich Fußball gespielt. Und nicht überall kaufen wichtigtuerische Oligarchen wahllos weltweit ein. Für manche Europäer ist es natürlich ein Schock, dass ihr Kontinent nicht nur aus den üblichen Verdächtigen besteht, nicht nur aus dem Old Boys‘ Network der vier großen Ligaländer. Da werden schnell Forderungen laut, die die Exklusivität einer WM-Vergabe mit dem Anprangern politischer Mißstände verknüpfen.

Ob der englische Fußballverband auch einen herzhaften Vorstoß unternehmen möchte, Rußland aus der Runde der G8 rauszuwerfen, darf bezweifelt werden. Auch die Idee, einem Land die WM zu geben, das nicht einmal in der Lage ist, in seiner Hauptstadt eine funktionierende S-Bahn zu unterhalten und in dem die staatlich alimentierte Kirche jahrzehntelang ihre segnende Hand über ein flächendeckendes System von Gewalt gegen Kinder in jeder erdenklichen Form unterhielt, könnte man im Nachhinein kritisch sehen. Ob man ein derartiges Turnier ein Land vergeben sollte, in dem regelmäßig Massaker verübt werden, gerne auch vor Supermärkten und in Schulen, vielleicht besser nicht. Und ist die Besetzung Nordirlands durch die Briten nicht ein bißchen wie die Besetzung Nordzyperns durch die Türkei bzw. umgekehrt bzw. dreihundert Jahre älter und also eigentlich nicht weltsportkompatibel?

Was niemand daran gehindert hat, die EM 1996 zu bejubeln. Was niemand daran hindern wird, die Olympischen Spiele in London zu bejubeln. Zurecht. Sport kann nicht die Welt retten, aber er kann trotzdem einiges bewirken, die antirassistischen Bemühungen der Fußballverbände sind von großer Bedeutung. Die internationalste Sportart der Welt wirkt am besten, wenn sie einbindet, Grenzen durchlässiger macht, den Veranstalter dazu zwingt, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Sonst könnte man sich eine WM-Qualifikation mit Ländern wie China, Iran und den anderen größeren und kleineren Überltätern sparen.

Und Katar bzw. Qatar? So viel Mut zum Risiko möchte ich gerne mal auf einem Weltklimagipfel sehen. Mut zu einer vollkommen unerwarteten Entscheidung, die Chancen schafft. Glaubt einer ernsthaft, die FIFA war einen Deut weniger korrupt, als Blatter den kleinen Umschlag öffnete, in dem Deutschland stand? Jetzt im Brustton der Selbstgerechtigkeit Mißstände anzuprangern, kommt gerade recht in einer Zeit, in der klar ist, dass die WM die nächsten dreißig Jahre nicht in Deutschland stattfinden wird. Wem die FIFA zu korrupt ist, der muss sie abschaffen, der muss fast alle internationalen Sportverbände abschaffen. Blatter macht wahrscheinlich das einzig Gute, zu dem die FIFA wirklich machen kann, er erweitert konsequent die Karte des Weltfußballs.

Was haben die üblichen Beleidigten gelästert über die WM in Japan und Südkorea. Jetzt mischt ein japanischer Zweitligaspieler die Bundesliga auf, und in Seoul versammelten sich bei der WM in Südafrika eine Million Menschen zum Public Viewing – früh um drei. Die WM in Qatar wird wieder neue Aspekte liefern, La Ola wurde 1986 in Mexiko geschaffen, die Vuvuzelas sind schon jetzt Legende. Wenn einer der Chefscheichs bereits jetzt darüber nachdenkt, eine Solar-WM zu machen, ist das kein schlechter Anfang. Und zwölf Jahre sind auch im Mittleren Osten eine lange Zeit. Man vergleiche Deutschland 1994 mit Deutschland 2006. In das Land der Pogrome und Mordanschläge hätte man zurecht niemand einladen mögen, aber die Zeiten änderten sich. Mit Polen und der Ukraine sind zwei Länder für die EM 2012 verantwortlich, deren nachbarschaftliches Verhältnis mindestens so kompliziert ist, wie das der Deutschen und Franzosen nach 1945. Auch wenn es heftig klemmt im Zeitplan (mehr als übrigens im vermeintlich minderbemittelten Südafrika), dieses gemeinsame Projekt wird es leichter machen, die schwierige Geschichte aufzuarbeiten, auch wenn Fußball keine Wunderdroge ist.

Das immer wieder vorgebrachte schlechte Beispiel der Olympischen Spiele 1936, mit der eine Diktatur unbehelligt Propaganda machen konnte, stimmt so nicht. Wer ein Großereignis ausrichtet, will heutzutage in den Weltmarkt integriert werden, Vuvuzelas kann man auch in Südafrika-Boutique im Prenzlauer Berg bekommen. Die Nazis wollten Autarkie, ökonomisch und kulturell. Auch die Medien funktionieren anders als damals. Bin gespannt, wie die Russen und Qatari mit Blogs und Tweets umgehen werden und wie sie ihre Länder modernisieren, wenn die nächste große Fete in terra incognita stattfindet.

2 Gedanken zu „Der talentierte Mister Blatter#8220;

  1. Weshalb muss man die FIFA abschaffen, wenn sie einem zu korrupt ist? Es könnte ja auch reichen, erstmal ihre Entscheidungen nicht mehr zu goutieren und auf Reformen zu drängen. Das betrifft im übrigen auch die DFB-Vertreter in der FIFA, die bisher schön zu allem geschwiegen haben – natürlich, weil sie 2006 auch selbst davon profitiert haben.

    Aber wer das „System Blatter“ jetzt nicht gestoppt bekommt, wo die Korruption wie im Fall Katar so offensichtlich ist (wozu braucht es eigentlich eine Bewertungskommission für die Bewerbungsunterlagen, wenn deren Ergebnisse niemand interessieren?), dürfte sich noch wundern, was in den nächsten Jahren noch alles an Entscheidungen kommt. Die irren Blatter-Ideen, jetzt wieder das Golden Goal oder ein Elfmeterschießen bei Unentschieden einzuführen, sind da vielleicht noch das Harmloseste – so ein Geschwätz ist nur möglich, wo Autokraten im Spätherbst glauben, sie könnten alles machen.

  2. Für mich einer der besten Kommentare zur WM-Vergabe, den ich bisher gelesen habe. Wunderbare Positionen herausgearbeitet. Endlich jemand, so dacht ich mir, der,

    1. überrascht ist, dass sich irgendjemand darüber wundert, dass die FiFa ein korrupter (Saft-) Laden ist, und den korrupte Vergabemodaltäten deshalb wenig wundern.
    (Ich habe den Eindruck, dass der, von mir übrigens sehr geschätzte und sehr gern gelesene Jens Weinreich, für einige seiner Lese die „Neue Offenbarung“ ist. Dass, was Weinreich jetzt schildert, das weiß der Journalist auch schon seit mindestens 20 Jahren. Respekt für die wichtige und notwendigeDokumentation, allerdings ist die Erkenntnis nicht neu.

    2. in einem kleinen Nebensatz schildert, wo Deutschland Anfang / Mitte der 90er stand. Eine WM bei/unter Nazis wäre nicht die unzutreffendste Werbung gewesen.

    3. schreibt, dass, trotz aller Korruption, die Vergabe der WM’s, nicht unbedingt nur Nachteile hat. Zumal das öffentliche Bild über die beiden Kandidaten auch ein medial hergestelltes Konstrukt ist. Wieviel diese Konstruktionen gekostet haben, das Bild Russlands und die des arabischen Raumes …, hier gibt es weniger Transparenz. Aber die alte Dame Europa (natürlich ohne Europa) ist sich in Politik, Wirtschaft, Presse, Historizismus einig wie schon so oft.

    Schönen Dank Herr Alef

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