Und täglich grüßt die Extrawurst

17. Mai 2006 Champions League Finale zwischen Arsenal und Barcelona. In der 18. Minute foult Arsenals Torhüter Jens Lehmann den durchgebrochene Eto’o und sieht Rot. Arsenal verliert ein grandioses Endspiel mit 2-1. Knapp zwei Monate später WM-Endspiel in Berlin. Nach einem Kopfstoß gegen den Italiener Materazzi sieht Zinedine Zidane in der 110. Minute Rot. Frankreich verliert im Elfmeterschießen.

Auch wenn es die Vorstellungskraft der meisten Bundesliga-Schiedsrichter überschreitet: Es ist möglich und dem Spiel sogar förderlich, Regelverstöße von allen Spielern zu bestrafen, egal, ob sie in vermeintlich großen oder kleinen Mannschaften spielen. Die Welt geht nicht unter, wenn es Chancengleichheit gibt zwischen Favoriten und Außenseitern. Warum also ist es nicht möglich, Spiele des FC Bayern regelkonform zu leiten und stattdessen das Team aus München in penetranter Weise zu bevorzugen und die gegnerische Mannschaft zu benachteiligen? Und warum wird diese gängige Praxis von den meisten Sportjournalisten devot oder achselzuckend zur Kenntnis genommen?

Jeder im Stadion in Leverkusen hat gestern Abend gesehen, dass Thiago zwingend hätte Rot sehen müssen. Jeder im Stadion hat am vergangenen Samstag in Dortmund gesehen, dass Xabi Alsonso in der 88. Minute ein Foul an Aubameyang beging, indem er ihm auf den Fuß trat. Das hatte er im Spiel vorher schon dreimal gemacht, weil er läuferische Defizite hat. Jeder im Stadion formerly known as Volkspark hat am 4. Spieltag gesehen, dass Neuer einen Konterversuch in der Nachspielzeit per Handspiel an der Mittellinue unterband und Gelb anstatt Rot sah. Jeder im Berliner Olympiastadion hat am 17. Mai 2014 gesehen, dass Mats Hummels in der 65. Minute ein reguläres Tor für Dortmund im Pokalfinale gegen die Bayern erzielte.

Tom Bartels, der Erste Bayern-Schwadroneur der ARD*, wußte gestern zu vermelden, dass noch nie eine Mannschaft dreimal hintereinander Pokalsieger geworden ist. Es gibt auch keine andere Mannschaft, die in engen, in kritischen Spielen in nationalen Wettbewerben von den Schiedsrichtern so zuvorkommend bedient wird wie die Bayern. Das gleicht sich im Lauf der Saison nicht aus, das ist ein unschätzbarer Wettbewerbsvorteil, der die psychologische Ausgangssituation der Bayern gegenüber allen anderen Wettbewerbern drastisch verbessert, will sagen, den Wettbewerb systematisch verzerrt. Im Großen wie im Kleinen. Nehmen wir den 2. Spieltag der Saison 2010/11. Am ersten Spieltag verlieren die Bayern zuhause gegen Gladbach nach Fehler von Neuer. Der Torwart aus Schalke hat einen nennenswerten Teil der Fangemeinde gegen sich, nach seinem Patzer ist der Unmut größer geworden. Auch gegen Wolfsburg patzt er in der 39. Minute. Der reguläre Treffer von Helmes wird aber nicht anerkannt, warum, weiß keiner.  Bayern gewinnt durch ein Tor von Luiz Gustavo in der letzten Minute mit 1-0, und Neuer kriegt die Kurve. Es sind diese kleinen Extras, diese Mischung aus Nachsicht, Servilität und Regelblindheit, die am 27. Spieltag zehn Punkte Vorsprung bedeuten können, oder den erfolgreichen Einbau eines  Schlüsselspielers zu Beginn der Saison. Neuer hätte auch scheiten können, so wie Hildebrand in Valencia oder Özil bei Real Madrid. Das ist sein Berufsrisiko, das ein Schiedsrichter nicht zu mindern braucht. Genau wie es das Risiko der Vereinsführung ist, einen Transfer zu vergeigen.

Luiz Gustavo, der Siegtorschütze gegen Wolfsburg, ist ein schönes Beispiel dafür, wie gut es sich leben läßt im Bayern-Kokon. Der Brasilianer stieg 2008 mit Hoffenheim in die Bundesliga auf. In 82 Spielen für Hoffenheim sah er einmal Rot und viermal Gelb-Rot. Auch für einen defensiven Mittelfeldspieler eine äußerst rustikale Bilanz. Am 1. Januar 2011, in der Winterpause, wechselte Gustavo zu den Bayern. In den 67 Spielen dort sah er weder Rot noch Gelb-Rot. Zur Saison 2013/14 wechselte er nach Wolfsburg und sah in 29 Spielen dreimal Gelb-Rot. In den 26 Spielen der laufenden Saison ist er ohne Rot und Gelb-Rot ausgekommen. Ein Jahr lang hat Dieter Hecking gebraucht, um dem Ex-Bayern-Spieler beizubringen, dass für ihn jetzt Regeln gelten, um die er sich im roten Trikot nicht zu kümmern brauchte. Es ist nicht die superbe Technik, die man im Training an der Säbener Straße beigebracht bekommt, nicht das Bayern-Gen, die Bierruhe, das Mia san Mia, es ist die speziell für die Bayern geschaffene Komfortzone, die es für die anderen Vereine im Profifußball nicht gibt, die aus dem Risikofaktor Luiz Gustavo eine verläßliche Größe machte.

Wer sich sicher sein kann, dass er sich in Zweikämpfen die eine oder andere Grobheit mehr rausnehmen kann, wer weiß, dass für ihn spezielle Privilegien gelten, wer es gewohnt ist, dass ihm regelmäßig kleine Aufmerksamkeiten zuteil werden, der tritt auch entsprechend auf. Es gibt keinen anderen Verein, in dem ein Spieler, der wie Ribéry pünktlich wie ein Quartalssäufer zur Flasche zum Revanchefoul greifen würde, jedesmal ungeschoren davon käme. Der „emotionale Typ“, der wenigstens schon vier mal glatt Rot hätte sehen müssen, weiß, warum es bei den Bayern so schön ist. In keiner anderen großen europäischen Liga würde man ihm diese regelmäßigen Ausraster durchgehen lassen. Ich bin kein Fan von Cristiano Ronaldo, aber zum Fußballer Europas fehlt Ribéry tatsächlich das Format. Dass er ein guter Tempodribbler ist, steht außer Frage, aber wenn man Zidane vom Platz stellen kann, dann auch Ribéry. Und Thiago. Und Neuer. Ohne großes Tamtam einfach mal die Regeln anwenden.

Denn wenn es nach den Regeln geht, tun sich die Bayern schwerer, als es ihnen und ihren Claqueuren lieb sein kann, dann ist von der vermeintlichen Überlegenheit nichts zu sehen. Botaeng sieht Rot, Schalke punktet in München. Tobias Welz liefert keine überragende, aber fehlerfreie Leistung zu Beginn der Rückrunde ab, Bayern verliert 4-1 gegen Wolfsburg. Peter Gagelmann kriegt im kicker die Note 2, Dortmund vernascht Bayern im Pokalendspiel mit 5-2.  Auf internationalem Parkett das gleiche Bild. Der portugiesische Schiedsrichter Pedro Proenca beim Finale dahoam war ordentlich, aber nicht überragend, ebenso wie Howard Webb beim 0-1 im Halbfinale gegen Real vor knapp einem Jahr. Man muss keine Sternstunde haben als Schiedsrichter, man muss nicht über sich hinaus wachsen, um ein Spiel der Bayern ohne krasse Fehlentscheidung zu ihren Gunsten zu leiten. Man braucht Courage und den Willen, genau hinzuschauen, mehr nicht. Dann ist man in der Lage, das Undenkbare zu tun, und die Bayern nach den gleichen Regeln zu behandeln, die für den Rest der Liga gelten.

Dass die Bayern verläßlich ihre Extrawurst serviert bekommen, liegt auch am Umgang vieler Journalisten mit dieser Vorzugsbehandlung. Außer Günter Netzer (bei Länderspielen) gibt es keinen relevanten Experten, der nicht ein ehemaliger Bayern-Spieler ist, so sehr ich Stefan Schnoor auch schätze. Kahn, Scholl, Hamann, Matthäus, Beckenbauer, Effenberg, Helmer – für ein Land, das so reich gesegnet ist mit redseligen Ex-Profis, eine erstaunlich einseitige Auswahl. Ich war hocherfreut, als Erik Meijer neulich bei Sky auftauchte. Vielleicht ist es diese geballte Bayern-Präsenz, die es für Tom Bartels (und andere) unmöglich macht, einen einfachen Sachverhalt korrekt wiederzugeben. Bei einem Kopfballduell schlug Dante gestern seinem Gegenspieler, ich glaube, es war Spahic, ins Gesicht. Ob es eine Tätlichkeit war oder eine Versehen, ist unklar, aber es war ein Schlag ins Gesicht. Bartels beschreibt die Szene so: „Da hat sich der Leverkusener im Zweikampf mit Dante weh getan.“ Weh getan? Warum so schüchtern? Ist es Majestätsbeleidigung, einen Schlag ins Gesicht als solchen zu bezeichnen? Spieler machen Fehler, pausenlos. Nicht nur das. Spieler – das ist nicht unwesentlich für die Idee der Chancengleichheit – werden von ihren Gegenspielern zu Fehlern gezwungen. Handlungsschnelligkeit, Ballsicherheit und Matchplan führen zu Abspielfehlern, Stellungsfehlern und Fouls. Und diese Fehler nutzt man aus. Weil man gewinnen will. Xabi Alonso kommt zu spät gegen Aubameyang, es gibt Elfmeter für Dortmund. Thiago fehlt in seinem zweiten Spiel nach einem Jahr Pause die Kondition, Bayern muss 40 Minuten in Unterzahl spielen. Diese Fehler sollte man als Kommentator einfach mal benennen und nicht wie Bartels in eine reflexhafte Rechtfertigungslitanei verfallen, wann immer ein Bayern-Spieler einen Fehler macht. Dann spricht sich das eventuell bis zu den Schiedsrichtern herum, und dann, vielleicht, wird das Premiumprodukt Bundesliga kein mehrstimmiges Bayernweihfestspiel mehr, sondern ein sportlicher Wettkampf mit offenem Ausgang.

*nicht des ZDF [korrigiert 2015-04-09, 12.14 Uhr]

Zu viele Cumshots, zu wenig Panini-Alben

Im kicker wirbt heute Wayne Rooney für Nikefootball. “ICH WERDE DAS TOR NICHT NUR TREFFEN. ICH WERDE ES ZERSTÖREN.” Die Kampagne läuft unter Joga Bonito, was soviel heißt wie “schönes Spiel” oder “schön gespielt”. Offenbar wurde Rooney hier gegen den Typ besetzt, sein Tritt ins Gemächt seines Teamkollegen Cristiano Ronaldo von Manchester United war der traurige Schlußpunkt im desolaten Auftritt des englischen Teams bei der WM. Zwei andere Jungscher (Torres? und ??) sind auch dabei in den drei (!) ganzseitigen Anzeigen, die am Schluß des Hefts zu finden sind und auf dem Kopf (!) stehen, so daß Rooney wie ein zweites Titelbild daherkommt. Wollte man den Fußball wieder vom Kopf auf die Füße stellen, darf man gerne auf diese hypermartialische Werbung für Sportgerät aller Art verzichten. Vor der WM gab es kleine Broschüren für Schuhe, die man sich individuell zusammenbauen konnte, und die Spieler (u.a. Kuranyi) sahen aus wie kleine Terminatoren oder auf Neusprech wie “Soldier as as a System”, Fußballspieler als eigenständige kleine Waffensysteme. Mit Joga Bonito hat das soviel zu tun wie Abu Ghoreib mit Demokratie.

Nicht minder nervig ist der Versuch, das Tor zu superlativieren. Verbal wird jeder halbwegs gerade Gewaltschuß mit “Weltklasse” geadelt, optisch sind es die Trailer sämtlicher Fußballsendungen, die in Superzeitlupe und digital überzeichnet Tore wahllos zusammenschneiden. Weil man mit Stellungsspiel keine Trailer drehen kann, wird vorsorglich der niedrige Torschnitt bei der WM bemängelt. 1974 gewann Jugoslawien gegen Zaire 9:0. Die WM-Finals 1994 und 2006 endeten torlos. Was sagt uns das über die Qualität der Spiele? Unter den Bedingungen der permanenten Visualisierung ist das Tor beim Fußball das, was der Cumshot (die Ejakulation) im Porno ist: ein äußerst knappes Gut, das permanent gezeigt werden muß. Schnell, langsam, von vorne, von hinten, im Reverse Angel usw. Die passende Werbung dazu läßt ihren Helden sagen: “ICH WERDE REKORDE BRECHEN UND NETZE ZERREIßEN.” Ein Schelm, wer hier an Defloration denkt.

Genug davon, die neuen Saisons in den verschiedenen Ligen werden ganz toll und spannend wie nie. Union Berlin und Dynamo Dresden haben ihre ersten Spiele bereits gewonnen, die Bundesliga summt vorfreudig und leicht nervös dem Freitag entgegen. Es wird viele Überraschungen geben. Unterstellen wir, dass mindestens zwei der drei Aufsteiger (Bochum und Cottbus) nicht absteigen, bleibt die bange Frage, wen es dann erwischt. Hertha, möchte man meinen. Rigider Sparkurs, Marcelinho weg und jede Menge junge Hupfer. Aber Hertha wird es schaffen und für seine Jugendarbeit belohnt werden. Außerdem haben sie mit Pantelic einen richtigen Knipser. Das weiß nur noch keiner. Stuttgart wäre mir wesentlich sympathischer als Absteiger, mit Dieter Hundt und 34 Unentschieden ein ganz heißer Kandidat. Dann ist da noch Gladbach. Ich war sehr ungehalten über die Entlassung von Horst Köppel, jetzt ist Don Jupp tatsächlich zurückgekehrt. Ob es hilft? Gladbach ist mentalmäßig so weit wie Hertha vor der großen Krise. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist stets genug Platz für eine völlig mißratene Saison und Platz 16. Auch Frankfurt ist mit in der Verlosung. Extremes Verletzungspech, das mit diesem Kader nicht kompensiert werden kann, Doppelbelastung durch den UEFA-Cup und ein mediales Umfeld, das noch launischer ist als die Mannschaft selbst. Aachen wird es leider erwischen, eine Mannschaft, die fast ausschließlich von ihrer Leidenschaft lebt und ohne ihre zwei leidenschaftlichsten Spieler Landgraf und Meijer das Abenteuer Bundesliga angeht, hat ganz schlechte Karten. Vorschlag: In der Winterpause werden beide reaktiviert.

Eigentlich ist es verwunderlich, dass Panini diese Marktlücke noch nicht entdeckt hat. Ich wünsche mir ein Sammelalbum für gedopte Spieler, sortiert nach dem Präparat. Floyd Landis tut es mit Testosteron, Jan Ullrich tut es mit Eigenurin…nö..blut, Mario Basler tut es mit Hefeweißbier. Würde man Doping freigeben, ergäben sich gerade für die chronisch unterfinanzierte Leichtathletik zahlreiche interessante Sponsoren. Darüber sollte man mal ergebnisoffen diskutieren.

Ein Kommentar zu “Zu viele Cumshots, zu wenig Panini-Alben” (1)

Ulrich Eumann
11.08.2006

Oh, oh, dieser Blog braucht anscheinend dringend einen Blogtor (oder Blektor?): einen Blog-Lektor.
“Joga Bonito” heißt “spiel(t) schön”. Rooney hat nicht das Gemächt (was ist ein Gemächst?) von Ronaldo getroffen, obwohl dies das Verhalten Ronaldos gut erklärt hätte (ich würde aber nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass Rooney das im Training bei ManU demnächst nicht ‘zufällig’ passiert), sondern das von Ricardo Carvalho vom Chelsea FC – auch da bestünden also diverse Rache-Optionen in den Liga- und diversen Pokalspielen.

Ulizinho,
http://www.worldleagues.blog.de