Von Anpfiff bis Finale – Rituale, Rituale

Letzte Woche stand ich auf dem Nürnberger Hauptmarkt und möchte an dieser Stelle meiner allergrößten Sorge Ausdruck verleihen. Obwohl im Dezember dort der Christkindlesmarkt stattfinden soll, ist noch überhaupt nichts fertig. Möglicherweise muss dieses Weltereignis abgesagt werden. Möglicherweise auch nicht, wie in den letzten 60 Jahren auch. Ach, was wären Olympische Spiele und Fußball-Weltmeisterschaften ohne den Chor der Lamentierer, die auf die unfertigen Stadien verweisen. Vor allem, wenn die Ereignisse in Dritte-Welt-Ländern wie Südafrika (2010) oder Griechenland (2004) stattfinden. Auch die Bananen in Brasilien sind noch unreif, berichten die 300 akkreditierten Journalisten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten übereinstimmend. Dabei sind die Teams doch schon längst im Land, und brauchen nach dem Training dringend Kohlehydrate.

Ein jegliches Medium bringt sich schon mal in Stellung und zeigt Kernkompetenz. spiegel.de hat die Turnierdaten aller deutschen Mannschaften bei Weltmeisterschaften seit 1966 erfasst und präsentiert sie als Vermessung des deutschen Fußballs. In jahrelanger akribischer Arbeit haben die beteiligten Forscher herausgefunden, dass die Bundesrepublik 1974 Weltmeister wurde, weil sie im Endspiel gegen Holland ein Tor mehr erzielte. In der hochabstrakten Sprache der Statistiker spricht man auch von einem „Zweizueins“.

Die taz wirbt mit einem sechswöchigen WM-Abo. Wer es abschließt – eine Woche Trauerarbeit nach dem vergeigten Endspiel ist inklusive – bekommt entweder das Buch „Fußball in Brasilien – Widerstand und Utopie“, oder die taz spendet zehn Euro an das Comitê Popular da Copa e des Olimpiades in Rio de Janeiro. Die Comites Populares sind ein Netz von Bürgerinitiativen, die über die Folgen von WM und Olympia, Gewalt gegen Demonstranten und andere unschöne Dinge in Brasilien informieren, Proteste und – ganz wichtig – alternatives Public Viewing organisieren. Im Spielort Porto Alegre fand 2001 das erste Weltsozialforum statt. Vielleicht ist das ja ein gutes Omen.

Gut und schön, sage ich da als weltoffener Fan, aber offenbar hat die taz aus dem Antidiskriminierungsurteil noch nichts gelernt. Viel sinnvoller wäre es, eine „Stiftung Linksverteidiger“ zu gründen, um dieser im doppelten Sinne Randgruppe zu einer besseren gesellschaftlichen Verankerung zu verhelfen. Die Tatsache, dass Marcel Schmelzer beinahe bei einer WM dabei gewesen wäre, zeigt überdeutlich: Da gibt es Handlungsbedarf.

Die FAZ entwickelt sich immer mehr zur grauen Eminenz des Klassenkampfes. Nicht nur, dass sie jenes von der taz ausgelobte und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebene Buch wohlwollend bespricht. Nein, auf der Titelseite schreibt sie vom „wurmstichigen Altherrenverein FIFA“, um im Sportteil dann ein ziemlich kritisches Porträt von Sepp Blatter zu bringen, obwohl der sich mit Beckenbauer duzt.

Der weltoffene Fan hat derweil ganz andere Probleme. Er muss eine geeignete Location finden, die perfekte Übertragungsqualität mit Pre- und After-Game-Dancing kombiniert und einen kurzen Nachhhauseweg für den wertvollen Sekundenschlaf garantiert. In der Nähe vom Winterfeldtplatz gibt es einen winzigen und leckeren brasilianischen Imbiss und drumherum 1000 Fernseher, aber für die Eröffnung wird es wohl wieder das Haus der Kulturen der Welt werden. Tshabalalas 1-0 gegen Mexiko im Eröffnungsspiel 2010 gehört immer noch zu den besonderen Momenten meiner WM-Geschichte. Wie ein Gewitter über Nordrhein-Westfalen war das, bloß in schön.

Unter rein sportlichen Gesichtspunkten müsste sich Schweinsteiger gegen Portugal auf der Bank und Podolski in der Startelf wiederfinden, aber welche Entscheidung trifft Löw schon unter rein sportlichen Gesichtpunkten? Ich frage mich immer noch, was der arme Kruse ausgefressen hat, weshalb er nicht mitdurfte. Wahrscheinlich hat er mit einem gestohlenen Sponsorenauto einen Blinden überfahren und danach auf den toten Hund gepinkelt. Irgendwas Gravierendes, was seiner Rolle als Vorbild in keinster Weise gerecht wird. Egal, sage ich da als weltoffener Fan. Morgen geht’s los und das ist schön.

Auf anderen Plätzen:

Trainer Baade beantwortet ein paar Fragen rund um die WM und wünscht sich Belgien als Weltmeister.

Torsten Wieland erinnert sich auf koenigsblog.de an Deutschland – Holland 1990 auf Mallorca.

Sebastian Fiebrig stellt auf textilvergehen.de Mutmaßungen darüber an, warum das Fansofa seines Kumpels aus der Alten Försterei geklaut und in die Wuhle geworfen wurde.

Ich stelle Mutmaßungen darüber an, warum ich @textilvergehen auf Twitter nicht folgen darf. Nur weil ich beim 5-3- von Nürnberg gegen Union 2004 im Stadion war? Das wäre sehr nachtragend.

Bewegung 11. Juni

Heute Morgen beim Bäcker hatte die Verkäuferin eine kleine Deutschlandflagge auf ihre Wange appliziert. Vermutlich ist sie keine Christin, sonst hätte sie auch noch die andere hingehalten. Oder ist diese für den Endspielgegner reserviert?

Hier ganz in der Nähe ist das 11-Freunde-Hauptquartier, im Astra an der Warschauer Str. sind sie abgestiegen. Während vor vier Jahren sich alles noch ungeplant und urwüchsig entwickelt hat, erinnert die Suche nach der ultimativen Public Viewing Location diesmal an die Hatz auf den neuesten Gourmet-Geheimtipp in New York. Heinz und Moni haben den größten Fernseher, dafür ist bei Willi und Rita das Bier nicht ganz so warm. Der südafrikanische Eventgastronom bietet im Tafelberghain das beste Preis-Leistungsverhältnis bei den Springbocksteaks, aber leider gibt es keine Nachos, was gerade beim Auftaktspiel gegen Mexiko echt blöd ist. Im Parkcafé kann man bis 18 Uhr frühstücken, aber die Lichtverhältnisse für die 16-Uhr-Spiele sind völlig beschissen.

Das Stadtmagazin Zitty, das ebenso wie der Tagesspiegel  im Astra residiert, hat ein kleines Büchlein mit den wichtigsten Orten zum öffentlichen Fernsehen zusammengestellt. Für die großen Übertragungsorte haben sie allen Ernstes den Frauenanteil angegeben. Abgesehen von den fragwürdigen empirischen Grundlagen: Was sagt uns das? Komm, ich zeig dir meine Panini-Alben-Sammlung ist eine der klassischen Eröffnungen, auch als Friedrichshainer Gambit bekannt. Bei unserem lustigen kleinen Blogevent in der Allianz-Arena Anfang Mai lag der Frauenanteil bei Null Prozent. So ist Fußball: Männer schreiben die Blogs, Frauen stricken die Schals. Vor mehr als zwanzig Jahren zeigte mir eine Bekannte völlig erbost ein Schild am Kassenhäuschen von Göttingen 05: Frauen und Kinder die Hälfte. Immerhin das hat Alice Schwarzer erreicht: Frauen sind Vollzahler geworden. Im Beach at the Box soll ihr Anteil bei 50 Prozent liegen, im Astra bei 30 Prozent: 11 Freunde geteilt durch 7 mal 3 macht ungefähr…Halten Sie Ausschau nach den 4,71 Frauen in der Nähe der Warschauer Straße. Meine WM beginnt am grünen Strand der Spree im Haus der Kulturen der Welt (60% Frauen, 100% Südafrika, 200% Hakuna Matata).